Rassismus und Antisemitismus sind Begriffe, die in Deutschland vor allem mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem aktuellen Rechtsextremismus in Verbindung gebracht werden. Sie haben demnach 1945 ein Ende gefunden oder sind allenfalls ein Phänomen des äußersten gesellschaftlichen Randes – soweit die gängige Meinung.
Rassismus- und Antisemitismuskritik hingegen verweisen auf die Unabgeschlossenheit der kolonialen und nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist bis heute präsent und zeigt sich beispielsweise in individuellen rassistischen Wissensbeständen, die sich auf unsere Einstellungen gegenüber Anderen (Geflüchteten, Schwarzen Deutschen, Roma …) auswirken. Auch ein entsprechend problematisches institutionelles Handeln (z. B. in Schule, Sozialer Arbeit, außerschulischen Bildung …) und diskriminierende Strukturen (Normen, Gesetze …) sind nur im Kontext dieser Vergangenheit zu verstehen.
Rassismus- und Antisemitismuskritik fokussieren verschiedene, miteinander verschränkte Anliegen:
- Sie heben auf eine Erweiterung des Wissens über Rassismus und Antisemitismus ab und wollen die Menschen für mehr Diversitäts- und Diskriminierungssensibilität gewinnen.
- Rassismus- und Antisemitismuskritik unterstützen Fachkräfte und Multiplikator*innen der Jugendsozial- und -bildungsarbeit, der (politischen) Erwachsenenbildung und der Schule sowie zivilgesellschaftlich Engagierte bei der Entwicklung (pädagogischer und politischer) Perspektiven. So werben sie beispielsweise für die Anerkennung von Mehrfachzughörigkeit in der durch Diversität gekennzeichneten Gesellschaft. Sie sensibilisieren für Diskriminierungen, die durch institutionelles Handeln hervorgerufen und verschärft werden. Dementsprechend plädiert dieser Ansatz für eine fehlerfreundliche (Selbst-)Reflexivität, die die Fachkräfte und Multiplikator*innen in ihrer diversitäts- und diskriminierungssensiblen Haltung und in ihrem kritischen Blick auf institutionelle Barrieren unterstützt.
- Sie verweisen auf strukturelle Formen der Diskriminierung, beispielsweise durch unhinterfragte Normen von ‚dazugehörig‘ und ‚nicht-dazugehörig‘. Problematische Gesetze (z. B. im Kontext von Flucht und Migration) und diskriminierende Sprache, bestehende Machtverhältnisse und Hierarchien, systematische Ausgrenzung von sozial benachteiligten und/oder migrantisierten Menschen in Schule, Ausbildung und Beruf werden mit diesem Ansatz zum Thema gemacht.
- Dabei wird auch deutlich, dass individuelle Ressentiments und Gewalt, institutionelles Handeln und diskriminierende Strukturen nicht isoliert nebeneinanderstehen; vielmehr sind sie miteinander verwoben, bestätigen und verschärfen sich gegenseitig. Lehrer*innen, Sozialarbeitende und politische Erwachsenenbildner*innen können problematische Vorgaben in ihrem Handeln bestätigen, aber sie können ihnen auch durch vertiefte Kenntnisse um Diversität und Diskriminierung ihre Spitze nehmen, sich für mehr Gerechtigkeit stark machen und somit Sand ins Getriebe der problematischen Strukturen streuen.
Rassismus- und antisemitismuskritische Bildungs- und Beratungsangebote bestärken Fachkräfte und Multiplikator*innen in ihrer beruflichen Arbeit durch mehr kognitives Wissen, durch eine klare diversitätssensible Haltung und neue Perspektiven im Umgang mit den Herausforderungen der heterogenen Gesellschaft.
Mehr:
Anne Broden (2015): Rassismus verstehen, in: Rolf Knieper/Elisaveta Khan (Hg.): Projekt DIMENSIONEN. Der NSU und seine Auswirkungen auf die Migrationsgesellschaft. Ein Methodenreader für Multiplikator_innen in der Jugend- und Bildungsarbeit, Düsseldorf: Eigenverlag, S. 8-13, online unter: https://www.idaev.de/fileadmin/user_upload/pdf/publikationen/Reader/2015_IDA_Methoden-Reader_Projekt_Dimensionen.pdf